Von Glühwürmchen und der richtigen Einstellung

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Auf des Nachbars idyllischer Weide – mit dem Kleinen und der Großen. Foto: Klara Freitag

 

Glühwürmchen in der Luft, es riecht nach frischem Regen und nach Linden, ich laufe durch Pfützen nach Hause und hatte gerade die besten 40 Minuten im Sattel seit Jahren. „Reins long and praise!“, dieser Lehrspruch passte heute so, und genauso habe ich es gemacht. Es war jedoch nicht mehr nur ein guter Lehrspruch, sondern ich fühlte es von oben bis unten, es wollte raus aus meinem Bauch voll Glück und hätte es am liebsten in die Welt hineingerufen. Als ich später im Halbdunkeln nach Hause unterwegs bin, ist das ganze Endorphin noch da. Viele ungute Nachrichten in letzter Zeit von Menschen gehört. Nichts, was mich persönlich betrifft, aber dennoch traurig. Doch an diesem Abend ist die Welt perfekt.

Einer der besten Momente war das. Er erinnerte mich an etwas, das Alizée Froment ziemlich am Ende ihres Lehrfilms sagt. Nämlich:

„Vergiss niemals, wie glücklich es macht, mit Pferden zu leben, auch nicht, wenn Du im Turniersport erfolgreich sein möchtest, oder wenn Du Shows reitest oder andere Ziele hast. Liebe Dein Pferd für seine ganz eigene Persönlichkeit – und nicht dafür, was Dir gibt. Dann ist Dein Gefühl ein völlig anderes. 

Du fühlst Dich aus tiefem Herzen frei. Und zwar nicht, weil Du kein Zaumzeug am Pferd hast und dennoch alle Lektionen reiten kannst. Sondern, weil Du Dich eins fühlst mit Deinem Pferd. Dieses Gefühl kann Dir keine Goldmedaille der Welt geben.“ 

Meine Medaillen sind natürlich andere: Es ist der nächste Kurs, der nächste Unterricht, mein Planer am Sattelschrank, in dem ich nachschaue: wie viel hat das Pferd getan, war die Mischung gut? Das sind meine Ziele, mein Hinsehnen nach einem neuen Level von Reitsport.

Wenn ich jedoch diese  Worte von Alizée Froment ernst nehme, dann trete ich geistig drei Schritte von all meinen persönlichen Zielen zurück. Nehm’ den selbstproduzierten Druck heraus. Ohne an Engagement zu verlieren. Aber seh einfach nur das Pferd und freu mich an ihm, wie es ist. In aller Unperfektheit und Einzigartigkeit.

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Genau einen Tag nachdem wir diese Fotos gemacht haben, regnete es so stark, dass alle Pusteblumen vernichtet waren. Timing! Foto: Klara Freitag

 

Und wenn mir genau das gelingt, dann gibt es diese Geschenke wie den Tag, wo ich durch die Pfützen stiefelte, obendrauf. Muss man nix für tun. Nur machen, leben, dasein.

 

Easypeasy und immer wieder von neuem meine Aufgabe.

Warum mein Gehirn sich verabschiedet, wenn ich reite

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Genau so sieht mein inneres Bild von meinem Leben mit Pferden aus. Nur um das zu Erreichen, ist genau das Gegenteil vom Rumliegen nötig. Foto: Klara Freitag

 

 

Warum ich im Supermarkt reiten übe und beim Reiten zu keinem Smalltalk fähig bin. Und was das mit der ultimativen Herausforderung zu tun hat.

 

Auf dem Reitplatz, ich im Sattel, Kind auf der Bank. Kind hat Langeweile, Kind schlägt vor, es könne Wörter buchstabieren üben. Gute Idee. Also

 

…. SAND!

….ähhh.… ZAUN!……äh….äh..

„Mama, schneller! Ein neues Wort!“ 

… ähhhh....GRAS!….TRENSE!…

...ähhh... SAND!

„Mama, das hatten wir schon!“

Mir fallen nur extrem wenige Wörter ein, und es dauert ewig, bis ich ein neues Wort rufen kann.

 

Ich war total überrascht, dass mein Hirn während des Reitens kaum Wörter ausspucken konnte, und wenn, dann fast nur Wörter von Dingen, die ich genau vor meiner Nase sah. Scheint also sehr beschäftigt zu sein, wenn ich im Sattel sitze.

 

Multitasking im Sattel, absolut unmöglich!
Allerdings übe ich Mutitasking beim Reiten jetzt. Völlig unfreiwillig. Ich reite im Supermarkt, hinterm Autolenkrad und beim Telefonieren. Beziehungsweise: Ich trainiere meine Reitmuskeln da. Weil: Auf dem Sitzschulungskurs mit Elaine Butler zeigte sie mir, dass ich hundertmal besser auf dem Pferd sitze, wenn ich meine Köperspannung deutlich erhöhe. Genauer: Die Bauchmuskulatur besser stabilisiere. Sie legte mir einen Neoprengurt für Rückenkranke um die Taille. Darin sind so stabilisierende Stäbchen, die eigentlich hinten um die Lende gelegt werden. Elaine nutzt die für Reiter umgekehrt, also feste Seite nach vorn an den Bauch, weichere Seite an den Rücken. Das sollte ich schön fest ziehen, fast wie ein Korsett. Dagegen dann mit der Muskulatur von unterem Bauch, oberen Bauch und Tailleg gegendrücken. Sich vorstellen, man sei ein fester Karton, zu allen Seiten ausgestopft. Das klingt komisch, aber ich habe auf Videos sofort sehen können, dass ich damit besser sitze und das Pferd besser geht. Also übe ich das jetzt auch zuhause. Habe ich Elaine sofort per Chat erzählt.

 

Jeannette: Ich hab übrigens soeben so einen Gurt bestellt und bekommen! Sieht ja auch besser auf Fotos aus, ne?! Versteckt meine kleine Wampe ;o))

 

Elaine: Es ist ganz wichtig, dass du mit Gegendruck gegen den Gurt arbeitest, nicht einfach dich zusammenhalten lassen von ihm, gell’ ;o))

 

Jeannette: Elaine, wie könnte ich! Ich bin schon heute durch den Supermarkt wie ein Karton gelaufen!

 

Elaine: HAHAHAAAA! Genau, und den vollen Einkaufswagen vor dir her schieben hilft auch, die Bauchmuskeln aufzubauen LOL

 

Jeannette: So ein Einkaufswagen ist tatsächlich sehr gut geeignet, um das Atmen beim Anspannen zu üben, einfacher, als auf dem Pferd, wo man noch 100 Sachen mehr machen muss :o)

 

Elaine: Perfekt. 10,000 Wiederholungen machen den Meister …

 

Jeannette: Arghhh!!!!! Was machst Du mit meiner Motivation!

 

Elaine: Wenn du ‚es‘ 10x in der Stunde probierst, 10 Stunden am Tag, hast du in 10 Tagen besser im Sinn, und nach 3 Monaten wie im Schlaf!

 

Jeannette: Okidoki…..klingt schon machbarer… ich trete die  „DIE ELAINE CHALLENGE“ an, mit Timer!

 

Beim Elfmeterschießen

Seitdem sitze ich vor dem Fernsehen und spanne meine Bauchdecke beim Elfmeterschießen der EM an. Ich spüre meinen Muskelkater, während ich am Schreibtisch sitze. Ich laufe durch den Supermarkt und vergesse Nudeln zu kaufen, weil ich ja neben dem Bauchanspannen und Einkaufswagenschieben auch noch ans Atmen denken muss. Prioritäten, ne. Das Kind und den Hund und den Mann und das Pferd habe ich zum Glück noch nicht vergessen, vor lauter Elaine-Muskel-Challenge und so.

 

Wer’s nicht glaubt: Probiert es selbst mal aus. Während ihr reitet, Wörter sagen, die nichts mit Pferden zu tun haben. Oder Bauchdecke anspannen und Einkaufswagen schieben.

 

Meisterleistungen, sag‘ ich euch!

 

 

Packt die Gummistiefel aus, es ist Sommer!

Ein paar Gedanken über diesen merkwürdigen Sommer.

Ich bin am Samstag im strömenden Regen ausgeritten. Durch Pfützen. Durch Matsch. Unter nassen Buchenblättern hindurch, die wie von Wasser lackiert glänzten und so noch grüner als sonst aussahen. Der Wald war leer, zu hören nur das Knistern unserer Regenklamotten, die Hufe der Pferde und viele Vogelstimmen. Das Pferd prustete vor Vergnügen. Ich schwitzte – immerhin trug ich fünf Schichten Bekleidung. T-Shirt, Pulli, Fleeceweste, Windjacke, Regenmantel.

Wohlgemerkt: Ende Juni.
Aber hey, dieser Juni ist ja äußerst vielseitig: Zwei Tage zuvor hatten wir 33 Grad, ich hab das Pferd gekühlt, mir die schönsten Schuhe (und die geeignetsten für so etwas) mit dem Wasserschlauch ruiniert und mir einen kleinen Sonnenbrand geholt.

So bist Du, Du Sommer 2016.

Du unverschämtes Ding.

Jemand notierte letztens: Das schönste am Regen ist nach dem Regen. Stimmt. Es riecht fantastisch. Die Welt ist reingewaschen. Das Pferd staubt auch kein Stück mehr, so oft hat das Wetter seinen Pelz gespült. Ich habe mir in den letzten Tagen gefühlt hundertfach die Hosen nass gemacht, weil ich im kniehohen Gras zu Fee gelaufen bin. Auf dem Nachhauseweg komme ich an ihrer Weide vorbei, und oft halte ich an, um nochmal kurz Hallo zu sagen.

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Das Bild ist vom Frühjahr, der Look ist eindeutig Sommer 2016. Foto: Klara Freitag

 

Es ist wurscht, dass es nass ist. Es sumpft zwar unter den Schuhen, die Gräsersamen kann ich hinterher aus den Ballerinas herauskippen und zwischen meinen Zehen heraussuchen, aber es riecht toll, dieses nach-dem-Regen-Wetter. Ebenso wunderbar: abends noch mal mit nackten Füßen durch den klatschnassen Rasen hinterm Haus zu laufen.

 

How to kill your favourite shoes in 10 minutes #fightingtheheat #equestrian #33degrees

10 Minuten Pferd gewaschen, und Deine Schuhe sind ruiniert. Todsicheres Rezept, für Euch getestet. Sind natürlich sowieso völlig ungeeignete Dinger für den Stall. Saugefährlich. Nicht nachmachen. Ist auch besser für die Schuhe.

 

Irgendwie finde ich ihn trotz allem nicht deprimierend, diesen Regen. Immerhin erlaubt mir dieses Wetter, abwechselnd meine beiden Lieblings-Fußbekleidungen zu tragen: Ballerinas und Gummistiefel.

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Aktuelle Lieblingstreter. Aus England. Mit Pferdchen drauf. Ist natürlich kein echtes Fell.

 

Ich habe eigentlich keinen Schuhtick. Ausgenommen sind da allerdings: knallrote Ballerinas (weil man sich so langweilig anziehen kann, wie der Schrank und mein Blick am frühen Morgen es so hergibt, und diese Schuhe alles herausreißen) und besondere Gummistiefel. Meine liebsten hatten Schottische Terrier drauf gedruckt, die aktuellen sind mit klassischen Reitmotiven verziert. Beide aus UK, die sind stiefeltechnisch einfach am besten (ja warum wohl?). Auf meiner Wunschliste stehen schon immer welche mit der britischen Flagge drauf. Aber irgendwie gefällt mir blau mit Sternchen gerade viel besser. Still shocked.

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Oben Joules, unten Joules. In der Mitte Designerin aus Berlin. Sie arbeitet mittlerweile als Kostümbildnerin. Ist also nicht mehr zu  haben, der Rock. Das Tuch habe ich meinem Kind geklaut.

 

Das Einzige, was mir an dem Regen so wirklich Sorgen macht, ist die Sache mit dem Heu.

Wo bist Du, Heuwetter?

Kannst Du Dich aus solchen seltsamen Bundesländern wie Brandenburg und Baden-Württemberg mal hier in den Westen herüberschwingen? Was soll das Pferd essen im Winter, wenn das hier so weitergeht? Mal abgesehen davon, dass es keine vier Tage am Stück mal sonnig genug war, ist der Boden im Moment viel zu nass, um mit dem Trecker eine Weide zu befahren. So langsam sind die Gräser so lang, dass man bangen muss, dass sie umkippen. Für wie viel wird ein ordentlicher Rundballen im Winter gehandelt, wenn das so weitergeht? Hundert Tacken?

Nicht gut. Ich warte auf Nachricht von Dir. Meld‘ Dich mal, Heuwetter.

Da hatte diese süße Schnauze noch einen Winterbart. Seht Ihr den Marschfleck auf meiner Leggins? Könnt Ihr als Beweis für diesen Text HIER werten.

Da hatte diese süße Schnauze noch einen Winterbart. Seht Ihr den Marschfleck auf meiner Leggins? Könnt Ihr als Beweis für diesen Text HIER werten. Fotos: Klara Freitag

 

So lange ernte ich Brenesseln, um es dem Pferd an den wenigen knallheißen Tagen leichter zu machen, und finde ansonsten, dass man bei 20 Grad im Regen immer noch besser reiten kann, als bei 33 Grad in der Sonne.

Und das sag ich, als absolutes Sonnenkind. So weit hat er mich also schon, dieser echt spezielle Juni. Verrückt.

Hallas Mann

Was Hans Günter Winkler, der VW Käfer meiner Familie, Morphium und die Kois alles miteinander zu tun haben.

Winkler halla 1955

Mit seiner Stute Halla im Jahr 1955. Hans Günter Winkler wird demnächst 90 Jahre alt, genau am 27. Juli 2016. Dieser Text erschien erstmals im Juli 2006 in >Der Tagesspiegel<. Copyright: Archiv ALRV

 

Sie fühlt ihr Herz. Bloß nichts anmerken lassen. Nicht zur Kasse gucken. Auf die Reiter starren. Dann langsam, ganz langsam am Zaun des Trainingsplatzes entlangschieben. Noch einen Meter bis zum Richterhäuschen. Da kontrolliert keiner mehr. Direkt vor ihr heben und senken sich Pferdehinterteile, sie hört den Rhythmus der Hufe. Noch ein Schritt. Geschafft! Sie ist drin: Auf dem großen Aachener Reitturnier. Da vorne reitet Winkler. Der große Hans Günter Winkler, auf seiner Halla, der Wunderstute.

Nachkriegszeit. Es sind die schönsten Sommertage für das Mädchen, diese Reitturniertage. Geld für Eintrittskarten ist nicht da. Das Mädchen ist eins von fünf Kinder, der Vater Schreiner, die Mutter näht in den Nächten. Die Familie ist das, was man kleine Leute nennt. Das Mädchen ist meine Mutter.

Die Szene spielte sich in den späten fünfziger Jahren ab, und noch immer freut sich meine Mutter, wenn sie davon erzählt. Sie war Hans Günter Winkler nah, der war ein Star in diesen Jahren. Es waren schwere Zeiten, das Wirtschaftswunder war ja kein Wunder, sondern harte Arbeit. Gefragt waren Menschen, die hart arbeiteten, solche, die sich aus kleinen Verhältnissen hochschufteten und sich bescheidenen Wohlstand errackerten. Und wer es zu mehr schaffte als zum bisschen Wohlstand, wurde zum Idol. Marika Kilius und Hans-Jürgen Bäumler etwa, der eislaufende Traum, Rudolf Schock, der Tenor aus dem Arbeitermilieu, Freddy Quinn, der Seemann aus den Alpen. Und eben Hans Günter Winkler.

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Ein Idol seiner Zeit: Hans Günter Winkler, das Bild stammt aus dem Jahr 1961. Copyright: Archiv ALRV

 

Hans Günter Winkler, das war der Fritz Walter des Reitsports. Ein gut aussehender Mann, stets im Anzug, die Haare wie frisch frisiert, mit drei am Oberkopf zusammengeschobenen Wellen. Ein Schönling, aber tapfer. 1956, bei den Olympischen Spielen von Stockholm, hatte er auf Halla, besinnungslos vor Schmerzen, Gold erritten. Richtiger: Halla hatte es erritten. Aber die beiden zusammen waren der Stoff, der zur Verehrung taugt. Und Winkler einer, der zeigte, wie aus einem kleinen Mann ein angesehener wird. Am Montag wird er 80 Jahre alt.

„Das war ja alles Sand hier, einfach nur Sand“, sagt er und zeigt von seiner Terrasse über den Rasen, die Bäume, das ganze Grün, wo zwischen Baumwipfeln die nächsten Häuser nur zu erahnen sind, so groß ist das Grundstück, obwohl Winklers Haus mitten in die kleine westfälische Stadt Warendorf gebaut ist, wenige hundert Meter vom Deutschen Olympiade-Komitee für Reiterei (DOKR) entfernt. Grün-weiß sind die Polster der Gartenstühle gestreift, grün die Fensterläden, weiß die Fassade. Vom Teich her schmatzt es: seine Fische.

Er mag Anführertypen. Sogar bei Fischen.
Er spitzt die Lippen, beugt sich herab, steckt einen Finger ins Wasser und pfeift. Unterarmlange, dicke japanische Kois schwimmen heran. Der Fetteste von ihnen kommt bis zum Finger, kleinere ihm hinterher, der Dicke stülpt die Lippen. „Der hat rausbekommen, dass er dann mehr zu fressen kriegt.“ Winkler mag Anführertypen. Er selbst ist immer noch der erfolgreichste Springreiter weltweit. Besser als Schockemöhle, Ehning, Beerbaum. Fünf Mal olympisches Gold, fünf Mal Deutscher Meister, zwei Mal Weltmeister. 128 Siege.

1959

Hans Günter Winkler im Jahr 1959. Copyright: Archiv ALRV

 

Die Reiterwelt hofiert ihn. „Ha-GehWeh ist da“, raunt es, sobald er auf einem Turnier entdeckt wird, HGW, von ihm spricht man in Großbuchstaben. Brötchen werden ihm hinterhergetragen, sein Rat wird gehört, die Kappe gezogen. Ein Beispiel vom Berliner Hallenturnier 2003: Die Springreiterin Helena Weinberg springt ruckartig mitten im Interview in der Loge auf: „Herr Winkler, wie geht es Ihnen?“, und plötzlich wird die Mittvierzigerin zum Schulmädchen.

„Ich war morgens der Erste und abends der Letzte im Stall“, sagt er. „Ich würde immer Arbeit finden. Sollen wir wetten?

Ich, nicht als Winkler, ganz normal, könnte heute zur Regionalzeitung gehen und ich bekäme Arbeit.“

Sein Vater war Reitlehrer in Frankfurt am Main. Er bekommt sein erstes Pony, Micky. Es ist erschwinglich, weil es die anderen Kinder alle abschmeißt. Genauso kommt Hans Günter Winkler auch später zu Halla. Keiner kann sie reiten, auch er muss zwei Jahre üben, bevor sie zu regulieren ist und nicht mehr kopflos springt. Mit 14 Jahren leitet er, Mitglied in der Reiter-HJ, obwohl der Vater nicht in der Partei ist, nach Schulschluss einen Reitstall. 1940 war das, „sonst war ja niemand mehr da“. Winkler wird mit 17 zum Reichsarbeitsdienst in den Odenwald eingezogen, und wieder entlassen, „der Krieg ist verloren“, doch auf dem Heimweg gerät er in Kriegsgefangenschaft („belgische Hasardeure, die Privatkrieg spielten“).

Stallbursche für den Maler Kühlbrandt
Er flieht, indem er den das Plumpsklo bewachenden Soldaten niederschlägt. Als er zurückkommt nach Frankfurt am Main, ist der Vater tot, die Wohnung der Mutter ausgebombt. Winkler klappert die Pferdefreunde seines Vaters ab, arbeitet erst auf der Galopprennbahn. Als er dort für Ernst Kühlbrandt, damals ein bekannter Pferdemaler, ein Pferd festhält, damit er es zeichnen kann, fragt der Maler den Jungen, was der denn mal werden wolle. Winkler: „Ein berühmter Reiter.“ Frankfurt lag in Trümmern. Etwas Vermesseneres hätte er kaum sagen können, der Stallbursche.

Erstes Mal Aachen_1949 Orient

Sein erster Ritt in Aachen auf Orient, 1949 war das. Copyright: Archiv ALRV

 

Eisenhower? Ist ihm zu schwach.
Die nächste Station ist Schloss Kronberg im Taunus, die Gräfin von Hessen, Tochter des letzten deutschen Kaisers. Winkler ist zuständig für den Stalltrakt der Amerikaner, sie haben hier ihr Hauptquartier. „Ich war morgens der Erste und abends der Letzte im Stall“, sagt er. „Ich würde immer Arbeit finden. Sollen wir wetten? Ich, nicht als Winkler, ganz normal, könnte heute zur Regionalzeitung gehen und ich bekäme Arbeit.“ Von seinem ersten Geld, ausgezahlt in Zigaretten, lässt er sich einen Maßanzug schneidern. Er will jemand sein. Zu Winklers Job gehörte es, mit Oberbefehlshaber Dwight Eisenhower, dem späteren US-Präsident, auszureiten. Wie war der so, Eisenhower? Winkler zögert. Dann: „Wie er später regierte, das sah man schon da.“ Er meint 1953 bis 1961, als Eisenhower Präsident ist und ihm Kritiker fehlende Schärfe nachsagen. Einmal, da sei Eisenhower die Gerte auf den Boden gefallen. „Und der hat sich tatsächlich selbst gebückt!“ Nur rübergeguckt hätte er zu seinem Soldaten, der untätig daneben stand. Ein General, der vom Boden hebt statt zu befehlen – das kann Winkler nicht anerkennen.

Der ruhmreiche Pferdemaler Kühlbrandt beobachtete ihn auf dem Reitplatz.

„Da saß ich schon oben, statt ihm unten das Pferd festzuhalten“ sagt Hans Günter Winkler.

Irgendwann entdeckt ein Warendorfer Pferdemann Winklers Talent und holt ihn nach Warendorf. Hier soll das Zentrum der Deutschen Reiterei entstehen. Die Schule als Bildungsanstalt war da schon vorüber, sie endet für Winkler mit dem erweiterten Volksschulabschluss, mehr war der Familie nicht möglich. Zwei Jahre nach der Episode mit dem vermessenen Wunsch steht der Pferdemaler von damals am Rande des Reitplatzes, wo Winkler übt. „Da saß ich schon oben, statt unten zu halten“, sagt er. Heute hängen in seinem Wohnzimmer zwei Ölbilder: Halla und Orient, gemalt von Kühlbrandt. Der Stallbursche wurde zum Kunden.

Frauengeschichten, etliche
Anfang der 50er Jahre. Winkler, schon Weltmeister, verkehrt mit den Größen der damaligen Republik. Kaminabende und Frühstücke bei Axel Springer, etwa. Ein „Homme au Femme“, ein umschwärmter Mann, sei „ihr Hausgast“ stets gewesen, erinnert sich Rosemarie Springer, damals noch Gattin des Verlegers. „Damen, die er eventuell heiraten wollte, nahm er zuvor mit zu uns“, erzählt die 86-Jährige. „Eine hat sich morgens beim Brötchenschneiden in den Finger geschnitten, da habe ich gesagt: Hans, ich glaub, die lassen wir lieber bleiben.“ Ist auch so geschehen. Vier andere hat er geheiratet.

Gratulation Winkler D'Inzeo WM 1955

Raimondo D’Inzeo gratuliert Hans Günter Winkler auf der WM 1955. Copyright: Archiv ALRV

 

1956. Die Olympischen Spiele in Stockholm. Im ersten Durchlauf passiert es: Der 13. Sprung, aus Strohmatten gebaut. Halla springt zu hoch, Winkler denkt „Beine zu“, damit er oben bleibt, klemmt die Knie zusammen, zu fest. „In diesem Augenblick spürte ich einen wilden Schmerz in der Lendengegend, als hätte man mir einen Dolch durch den Körper gejagt“, schreibt Winkler in seinen Erinnerungen. Er liegt auf dem Pferdehals, als Halla die Bahn verlässt. Das deutsche Team hat vier Punkte Vorsprung vor den Briten.Winkler will reiten. Nur dann können sie gewinnen. Es gibt keinen Ersatzmann.

Kaffee mit Morphium sicherte den Goldritt
Wahnsinnig sei gewesen, dass er überhaupt gestartet ist, sagt Rosemarie Springer, die damals im Publikum saß. „Diese Schmerzen! Kein Mensch in der Welt hätte das gemacht.“ Ihre Stimme klingt auch heute noch, 50 Jahre nach diesem Tag, beeindruckt, ist laut und nachsetzend. Winklers Kreislauf kippt weg, ihm wird schwarz vor Augen. Hallas Tierarzt gibt dem Reiter ein Zäpfchen. Spritzt Morphium. Jetzt ist die Betäubung zu stark. Sie flößen ihm Kaffee ein, einer hält den Kopf hoch, ein anderer schüttet. Dann wird Winkler auf Halla gehoben. Dem Publikum sagen sie: „Eine Sehne ist gerissen.“ Es war ein Muskelriss im Bauch. Winkler schreit bei jedem Sprung, Halla macht keinen einzigen Fehler. „Sie hat ihn zur Goldmedaille getragen. Das war ein so sagenhaftes Pferd“, sagt Rosemarie Springer. Es ist dieser Erfolg, der Halla zur Wunderstute und Winkler zur Legende macht.

Jetset und VW Käfer
1960. In Aachen kauft die Familie meiner Mutter das erste Auto. Ein olivgrüner VW Käfer, gebraucht. Die Großmutter übt das Fahren auf einem Parkplatz. Die Kinder werden flügge, sie heiraten Techniker, Lehrer, Steuerberater. Alle Schichten erfahren einen Zuwachs an Hab und Gut und Wissen. Und auch die Promis sind weitergezogen. Winkler beschreibt sein Leben zu der Zeit als „Jetset“, er sei ein „Popstar“ gewesen. Das hat sich gehalten. Noch heute kommen Karten an, auch für Halla, die schon 27 Jahre lang tot ist. Vier Häuser haben ihm Fans vererbt. Er kannte keinen persönlich.

Winkler hat Schüler und verliert viele davon, er ist streng. Alwin Schockemöhle, der ältere Bruder Pauls, ist einer von denen, die durchhalten. In den Mittagspausen steht er am Reitplatz, um Winkler zuzusehen. „Der Chef ritt immer, wenn die anderen Pause machten, um ungestört zu sein.“ Mit den Brüdern Schockemöhle wächst eine neue Reitergeneration heran. Die Jungen lehnen sich gegen den Altmeister auf, Winkler soll Olympia ’72, München, nicht im Team reiten, ja, soll sogar nie mehr ein Amt im Sport bekommen. Zu dominant sei er. Aber der Aufstand scheitert. Winkler reitet so gut, dass sie an seiner Leistung nicht vorbeisehen können. Immer hat er ein Pferd, das ganz oben mithalten kann. Über das er bestimmt. Ohne Sponsoren. Doch schließlich sind es die Rebellen, die sich besinnen: Es kann nicht sein, dass einer wie Winkler kein Amt mehr bekommen darf, sagt Paul Schockemöhle. Winkler ist auch heute noch Mitglied im Springausschuss, der bestimmt, wer für Deutschland reitet.

Geheimnisse eines Juweliers
„Kommen Sie“, sagt Hans Günter Winkler, tritt über dicke Teppiche, vorbei an einem Esstisch. Papierschnitzel liegen darauf, viereckig sauber ausgeschnitten, beschriftet mit den Namen der Gäste. Die Sitzordnung seiner Geburtstagsfeier soll festgelegt werden, daneben sind auf einem großen Bogen Papier die runden Tische aufgemalt. Mit „Hast Du die Namen nummeriert?“ hat er eben noch die junge Frau in den Feierabend verabschiedet, die sein Büro leitet. Winkler öffnet eine schwere Tür, dann steht man im Kühlraum: rote Wände, Glasregale, 16 Grad sind es hier nur, und alle Wände und der mittige Tisch sind voll gestellt mit Siegerschalen und Pokalen. Weltmeistertitel, Olympia, das Bundesverdienstkreuz. „Silber läuft nicht so schnell an, wenn man es kühlt“, sagt er. Das mit der Gradzahl hat ihm mal ein Juwelier verraten.

Die achtziger Jahre. 1986 reitet Winkler sein letztes Turnier. Er wird Geschäftsmann und verlässt sich auf seinen Namen. HGW, seine Initialen, sollen die Marke sein. Er lockt Investoren zu Reitturnieren, veranstaltet selbst Turniere. Er erfindet Turnierserien für Nachwuchsspringreiter. Alle die, die heute im Springsport vorne reiten, sagt der Geschäftsführer des DOKR, Reinhard Wendt, „sind durch die Mühle der Winkler-Prüfungen gegangen.“

Während Winkler sich neu erfindet, baut meine Mutter mit meinem Vater ein zweites Haus. Freistehend statt Reihe, Wiese drumherum, zwei Kombis davor. Die Enkel des Schreiners, dessen höchster Luxus Sahne war, studieren.

Fleiß. Sorgfalt. Durchhaltewillen.
Disziplin. Kein Wort kommt häufiger vor, wenn man über Winkler liest, ihn befragt oder Dritte über ihn erzählen. „Hier sehen Sie“, mit exakter kleiner Kugelschreiberschrift sind Termine des 79-Jährigen eingetragen, „jeden Tag bis 22, 23 Uhr“ arbeite er, morgens und nachmittags sei er im Stall. Seine Geschichte baut auf die Wirtschaftswunder-Werte: Fleiß, Sorgfalt, Durchhaltewillen. Es ist eine westdeutsche Geschichte. Nur in der Bundesrepublik wird der Pferdesport so stark, reiten Deutsche jahrzehntelang an der Weltspitze. In der DDR war privater Pferdebesitz unüblich. Winkler steht für den Aufbau, wie er im Westen passierte: für Marktwirtschaft und Aufstieg.

Hallas Zeitgedächtnis
Eine weiche Seite Winklers erfährt man nur, wenn man mit ihm über Halla oder Frauen spricht. Seine Leidenschaften. Weshalb fand er Halla so intelligent? Dann erzählt er etwa die Geschichte, dass Halla schon als Fohlen die Fahrzeiten der Bahnstrecke neben der Weide kannte und eben über die Gleise gehopst sei, wenn kein Zug kam, auf eine andere Koppel. Dieses „raffinierte kleine Ding“. „Und, finden sie das normal für ein Pferd?“, fragt er. Die Statue von Halla, die in Warendorf steht, die er beim Vorbeigehen mit „Tag Halla“ begrüßt, bekommt jedes Jahr im Winter von ihm eine Decke aufgelegt, Schriftzug „HGW“.

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2011 im großen Stadion mit Weggefährte Raimondo D’Inzeo (links) und ALRV-Präsident Carl Meulenbergh (rechts). Raimondo D’Inzeo starb im Jahr 2013. Foto: Michael Strauch / ALRV Archiv

 

Irgendwann mit über vierzig sitzt meine Mutter auf unserem Pferd und trabt über die Wiese neben unserem Haus. Als Winkler vor ein paar Jahren aufhört zu reiten, weil nach einem Sturz „von einem grünen Pferd“ sein Rücken nicht mehr mitmacht, ist Reiten zum Breitensport geworden. Über 760 000 Menschen reiten in Vereinen. Kaum eine Sportart hat der allgemeine Zuwachs an Geld und Freizeit für alle Schichten so verändert. Reitstunden sind per 10er-Karte zu kaufen, wie der Eintritt ins Freibad. Gleichzeitig sind die Grenzen zum Leistungssport scharf geblieben. Im internationalen Reitsport kann nur mithalten, wer zwei, drei Ausnahmepferde hat, die so an die 10 000 Euro Unterhalt im Spitzentrainingsstall pro Jahr kosten, plus Lkw, Hotel und Fahrt zum Turnier, mehrmals im Monat. In kaum einem Sport bleibt der Schritt von der Regionalikone zum wirklichen Spitzensport so schwierig. Und diese Grenze, die immer da war, die hat damals Hans Günter Winkler einfach durchbrochen.

Mit seiner Härte gegen sich selbst, seinem sturen Kopf, dem ausgeprägten Ego, dem Bogen um Abhängigkeiten und der Gabe, immer wieder Pferde mit Potenzial zu erkennen. Wie Halla eben.

 

 

****P.S.:****

Nachdem dieser Text im Tagesspiegel veröffentlicht war, rief mich übrigens ein Wissenschaftler an, der sich mit Doping beschäftigte. Er fragte, ob das mit dem Morphium wirklich stimme – ja, genau so hat Hans Günter Winkler es mir erzählt. Während wir durch sein Haus streiften, mit den Fingern im Wasser nach seinen Kois angelten, seine Kühlkammer für Pokale besichtigten und er sein skurriles zusätzliches Wohnzimmer zeigte, das er in einem leer gepumpten Indoor-Schwimmbad errichtet hatte.

Wenn Ihr diesen Text gelesen habt, dann wisst Ihr, warum ich mich dem Reitturnier in Aachen stark verbunden fühle. Das mündet manchmal in solchen Texten, und manchmal in schärferen, wie demjenigen, der aktuell für den Medienpreis DAS SILBERNE PFERD nominiert ist, der auf dem Turnier vergeben wird. Worüber ich mich sehr freue, gerade eben weil es ein kritischer Text ist.

Unsere Reiterwelt wird nicht besser, wenn wir immer alles in rosa Watte verpacken.

HGW wird in diesem Jahr 90 Jahre alt. Alles stimmt noch so, wie es hier drin steht – bis auf so einige Zahlen. Heute wird man kein Spitzenpferd mehr für 10 000 Euro im Jahr unterbringen können, und aktuell sind nur noch etwas weniger als 700 000 Menschen in Vereinen gemeldet, nicht mehr als 760 000, wie es vor zehn Jahren noch der Fall war. Die Zeit spielt den Pferdemenschen nicht in die Hände. Doch:

Ohne die Entwicklung, die in diesem Text beschrieben ist, würden DU und ICH vielleicht gar nicht reiten.

 

So züchtet man Goldstücke

Halbblutstute Alizée (The Alchimist xx mal Damon Hill) mit ihrem Stutfohlen von Rock Forever NRW

 

Ich mach’ kein Geheimnis daraus: ich liebe die Pferdezucht. Ich habe zwei Mal ein Fohlen selbst gezogen (was nach den Gesetzen der Szene nicht reicht, um sich Züchter zu nennen), ich könnte stundenlang Abstammungen wälzen (manchmal mündet es in einem Artikel oder einem Teil eines Buchs), ich habe viele Tage meiner Kinder- und Jugendzeit auf einem Ponygestüt verbracht (junge Ponies angeritten, Fohlen das Hufegeben beigebracht, im Stall geschlafen).

Mit einem schicken Reitponyfohlen der Hofbesitzerin.

Mit einem schicken Reitponystutfohlen von Dating AT der Hofbesitzerin Ute Donandt.

 

In meinem Leben soll es mal meine eigene Zucht geben. Gut vorbereitet, gut ausgesucht. Klein und fein. Nicht schon morgen. Ich weiß, das ist dennoch verrückt, wo doch überall etablierte Züchter reduzieren. Macht nichts. Verrückt kann ich gut.

Wann immer es geht, besuche ich Züchter. Ich will etwas aufsaugen davon, was ihre Idee, ihre Philosophie ist, will vom Gucken und Erzählen lernen. Von den alten Hasen. Außerdem finde ich Reiter spannend, die einfach dieses Virus gepackt hat und die sich trotz aller Umstände entscheiden: ich mach’ das jetzt. Ich baue mir eine Zucht auf. Marion Creyaufmüller ist jemand, der schon hunderte Schritte weiter diesen Weg gegangen ist als ich. Sie ist Dressurreiterin und Warmblutzüchterin mit handverlesenen Stuten, zwei davon in Sonderfarbe. Sie züchtet in Süddeutschland, und als ich im Frühjahr zu meiner Pferde-Recherchereise nach München aufbrach, war schnell klar: da müssen wir einen Zwischenstopp machen!

Ein ziemlich nasser Tag im Mai. Wir sind auf dem Ferstlhof angekommen, wir, das sind Fotografin Sabine Grosser und ich. Spezialisiert ist der Hof auf die Pension von Zuchstuten und Aufzuchtpferden. Abfohlboxen mit Paddock gibt es hier, und große Offenställe für die Mutterstuten mit den schon stabileren Fohlen. Soweit das Auge reicht, sind Weiden zu sehen, dabei liegt der Stall nur wenige Minuten vor München.

FERSTL HOF Interview mit Jeannette Aretz

Rosie, Rosée du Matin, unterwegs. Gern sausend!

 

Vollblut bringt die Farbe

Hier stehen die Stuten von Marion Creyaufmüller. Über die eine von ihnen, eine palominofarbene Halbblutstute, bin ich auf sie aufmerksam geworden. Ich entdeckte die Stute irgendwann im Netz und war begeistert. Denn: Farbzucht im Warmblutbereich ist nicht ganz unumstritten, oft wird da Farbe vor Qualität gehandelt und die Abstammungen sind hinten heraus lückenhaft oder von diversen Fremdrassen geprägt. Dies ist hier aber anders. Ihre Palominostute namens Alizée hat die Farbe von ihrem Vater, einem Vollblüter namens The Alchimist xx. Der Mutterstamm ist von Dressurblut geprägt, ihr Pedigree geht weiter mit Damon Hill x Argwohn I. Also: Eindeutig warmbluttypisch gezogen, nur eben in besonderer Farbe.

Wir gehen durch den Offenstall, hinaus zu den Weiden, die Stutenherde ist klitzeklein weit hinten auszumachen. Marion Creyaufmüller zeigt auf die Stuten: Da vorn ist Alizée, daneben ihr Fohlen von Rock Forever, etwas weiter weg steht ihre schwedische Zuchtstute, eine Braunisabelle, auch Buckskin genannt. Weich wie Waldboden fühlt sich der dunkle Moorboden hier unter den Sohlen an. Die Grashalme sind knallgrün, Frühjahrsgras eben, sie streifen ihre Regentropfen an unseren Stiefeln ab.

Rosie ist ein spritziger Naseweis, Fleur eine höfliche Dame

Bei den Pferden angekommen, ist sofort klar, wer hier die Mutigste ist: Alizées Fohlen, genannt Rosie, mit vollem Namen Rosée du Matin, möchte gern von jedem gekrault werden. „Mir gehört die Welt“ sagt ihr Ausdruck, aber nicht frech, sondern gepaart mit ganz viel Charme. Fleur, ein braunes Florencio-Stutfohlen der Schwedin, schaut derweil erst mal aus der Sicherheit neben der Mutterstute zu uns Fremden hin und pirscht sich dann ganz vorsichtig an. Ein höfliches Wesen – und ein Pferd, das im zweiten Augenblick wirkt, wenn sie mit einer beeindruckenden Taktsicherheit über die Weide trabt, und sich ohne irgendein bisschen Balance oder Takt zu verlieren, in die Schleuse zum Offenstall einsortiert. Während meine Hände bei diesem Termin völlig im Fohlenfell versinken, erzählt Marion Creyaufmüller mir, was ihr beim Züchten wichtig ist.

FERSTL HOF Interview mit Jeannette Aretz

>>>Hallo?<<< sagte dieses Fohlen irgendwann, als ich da versonnen stand. Hat mich nur ganz vorsichtig angetippt, nicht gezwickt oder so!

 

FERSTL HOF Interview mit Jeannette Aretz

>>>Ach, Du bist das! Guten Tag!<<< Alle Fotos: Sabine Grosser

 

  1. Regel: An die Amateure denken

„Klar möchte jeder Züchter sein Pferd am liebsten später in der Klasse S oder höher sehen“, sagt Marion Creyaufmüller. „Aber die Wahrscheinlichkeit, dass ich mein Fohlen an einen Amateur im A, L oder M Bereich verkaufe, ist viel höher. Ich möchte nicht an diesen Menschen vorbeizüchten. Meine Pferde sollen eine hohe Qualität haben, aber von Amateuren zu bedienen sein.“ Also: auch mal einen Sprung machen können, ins Gelände gehen, und nicht so elektrisch sein, dass es größte Mühe macht, sie zu bedienen. Sie setzt Hengste ein, die sich im Sport bewährt haben und klar im Kopf sind. Rock Forever und Florenciano zum Beispiel.  Nur ganz selten nimmt sie einen Junghengst, und wenn, dann muss dieser einen überragenden Mutterstamm haben.

FERSTL HOF Interview mit Jeannette Aretz

Fayence Noir mit ihrem Stutfohlen Féline von Fürstenball.

 

  1. Regel: Jenseits der Verkaufsanzeigen suchen

Ihre private Zuchtgeschichte ist der typische Einstieg eines Reiters in das Metier: Ihr Pferd hatte eine Verletzung. Eine gute Stute, sporterfolgreich und ansonsten gesund. Drei Fohlen zog sie aus ihr, dann konnte sie das hervorragende Pferd einer Freundin als weitere Zuchtstute erwerben. „Ich hatte, wie so viele, immer schon den Traum, eines Tages zu züchten“, erklärt sie. Anfangs ergab es sich einfach. Dann entdeckte sie ihre Vorliebe für aufgehellte Farben und suchte gezielt nach einer solchen Stute. „Mein Ziel war es, eine Stute ohne Fremdblut zu finden.“ Das ist nämlich gar nicht so einfach. „Ich hatte die Idee, über das Vollblut die Farbe in die Warmblutzucht zu bekommen.“ In dieser Zeit wurde der Hengst The Alchimist xx als Jungpferd vom Gestüt Falkenhorst erworben, ein Cremello aus den USA. Sie beobachtete dessen Aufzucht aus der Ferne, wartete, bis er leistungsgeprüft war. Der Hengst deckte nur eine handvoll Stuten, bis er an einer Kolik verstarb. Aus seinem ersten und einzigen Jahrgang stöberte sie ein Stutfohlen des Hengstes auf, die Mutter war eine „wirklich ordentliche Stute von Damon Hill“, und es gelang ihr, dieses Fohlen zu erwerben. Alizée.

Idylle auf dem Ferstlhof: Einfarbige Stute aus dem Noris-Stamm, ebenso von Marion Creyaufmüller, mit einem Fohlen von Fürstenball.

Idylle auf dem Ferstlhof: Die einfarbige Stute Fayence Noir von Fürst Rousseau aus dem Noria-Stamm, ebenso im Besitz von Marion Creyaufmüller, mit einem Fohlen von Fürstenball.

 

  1. Regel: Kilometer sind völlig egal

Für dieses Fohlen von The Alchimist xx fuhr sie hunderte Kilometer durch Deutschland. Ein Klacks gegen den nächsten Kauf: Sie durchstöberte das europäische Ausland nach aufgehellten Pferden, und fand in Schweden einen aufgehellten im Grand-Prix-Sport erfolgreichen Hengst. Sie verfolgte dessen Linien weiter, und schälte so heraus, dass es in der schwedischen Warmblutzucht durchaus aufgehellte Pferde ohne Fremdblutanteile gibt. Bis ins 18. Jahrhundert hinein erforschte Marion Creyaufmüller die Abstammungen, um herauszufinden, woher die Aufhellung dieser schwedischen Warmblüter stammt, nämlich entweder durch Trakehner Einflüsse, oder durch Vollbluteinflüsse (beides gilt in der Warmblutzucht als Veredlerblut, und zählt daher nicht als Fremdblut). Bei ihren Recherchen entdeckte sie eine Züchterin, die eine aufgehellte Stute einsetzte, die zuvor bis M-Dressur erfolgreich war. Einer einzigen Tochter gab sie ihre Fellfarbe mit – Riviére d’Or, genannt Rindi, Tochter des Rock-Forever-Sohns Rausing. „Nur wollte die Züchterin gerade dieses Stutfohlen nicht abgeben. Aber nicht etwa wegen der Farbe – die war für sie zufällig so und gar nicht so wichtig. Sie mochte sie sehr, weil sie ihrer Mutter so ähnlich war.“ Die beiden blieben im Kontakt, und als im nächsten Jahr ein weiteres gutes Fohlen der Stute geboren war, durfte Rindi als Jährling die weite Reise von Schweden nach Deutschland antreten. Diese Stute, heute vierjährig, führt nun ihr erstes Fohlen. Anhand des braunen Stutfohlens – das höfliche Fohlen mit der auffälligen Taktsicherheit – und ihrer braunisabellen Spielgefährtin ist im Kleinen gut sichtbar, wie die Regeln der Genetik beim Farbzüchter zuschlagen. Zwei aufgehellte Mutterstuten, angepaart mit zwei nicht aufgehellten Hengsten: die Chancen stehen 50:50, dass das Fohlen die Farbe der Mutter erwirbt. Durch Zufall ist dieser Jahrgang genau so gesplittet.

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Die Braunisabelle Riviére d’Or mit ihrem Stutfohlen Fleur du Matin von Florenciano.

 

  1. Regel: Das perfekte Umfeld

„Ich hatte immer den Traum von einem eigenen Hof. Realisiert habe ich es nie, und heute bin ich darüber gar nicht so unglücklich“ erzählt die Züchterin. Ihre Stuten sind auf dem Ferstlhof eingestallt. „Das ist ideal, das Gestüt wird von einem auf Pferde spezialisiertem Tierarzt und einer Pferdewirtschaftsmeisterin geleitet, ich kann sicher sein, dass die Pferde bestens betreut sind.“ Nachtwachen und 15 Fußkilometer pro Tag, bloß, um alle Pferde zu versorgen, bleiben der einstallenden Züchterin so erspart. Ute Donandt heißt die Pferdewirtschaftsmeisterin, die den Hof mit ihrem Mann betreibt. Ihr Konzept war es, „einen Ort für die Pferde zu schaffen, nicht für die Menschen, und den Pferden jeden Wunsch von den Augen abzulesen“. So haben die Abfohlboxen Paddocks davor, und zur Stallgasse hin gibt es nicht einfach eine Holzwand, sondern die Gitter reichen bis zum Boden. „Damit die Fohlen von Anfang an da durch schauen können und sich nicht nach oben recken müssen, damit sie etwas sehen können.“ Es gibt Heu rund um die Uhr, alle Boxen sind videoüberwacht, und jedes Pferd kommt täglich heraus, „auch bei Regen und Matschwetter, nur nicht, wenn es mal Glatteis gibt“. Vom Abfohlstall in den ersten Tagen geht es für Mutter und Kind in die Herde auf riesige Flächen. „Wir beobachten die Gruppen ganz genau, und schauen, in welcher Konstellation sie am ruhigsten sind und was sie lieben. Sich den Rücken vom Regen massieren zu lassen, das lieben die meisten Pferde zum Beispiel viel mehr, als hereingeholt zu werden oder eine Decke zu tragen!“

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Kleines Glück: Fohlen von Duke of Hearts xx beim Kraulen mit der Mutterstute auf dem Ferstlhof.

 

  1. Regel: Den Ritterschlag erkennen

Letztens begutachtete ein wichtiger Würdenträger des Verbandes das Stutfohlen von Alizée. Er kommentierte, sinngemäß: „Ein ganz gelungenes Fohlen, die Optik, der Typ, die Bewegung! Nun gut, die Farbe ist gewöhnungsbedürftig, aber ansonsten ist sie gelungen!“ Ein Ritterschlag – den ein Farbzüchter erst mal als solchen erkennen muss. Dass die Farbe durchweg noch nicht richtig akzeptiert wird, das „wird sich erst ändern, wenn Pferde dieser Farbe im Sport auftauchen und sich bewähren“, sagt die Züchterin. „Ich habe mich über diesen Kommentar gefreut“, sagt Marion Creyaufmüller. „Wichtig ist, dass die Qualität stimmt. Ansonsten finde ich: Was für ihn gewöhnungsbedürftig ist, ist für mich eben das Sahnehäubchen!“

Rosée du Matin von Rock forever NRW, wahrscheinlich das einzige Fohlen dieses Vaters in der Spezialfarbe Braunisabell, auch Buckskin genannt.

 

 Ein P.S. muss unbedingt noch  hinter diesen Artikel! Danke an Sabine Grosser, deren Arbeit ich sehr schätze! Wir haben das erste Mal ohne hunderte Kilometer Distanz miteinander gearbeitet, und das war sooo schön!

Danke an Marion Creyaufmüller & Ute Donandt, dass Sie uns Türen und Tore geöffnet haben und aus einer Internetbekanntschaft ein echtes Treffen unter Pferdeliebhabern werden konnte. Es war wunderbar!

Und noch eins: Die Zuchtseite von Marion Creyaufmüller findet man unter www.horseandart.de. Die Vorstellung von Ute Donandts Ferstlhof findet man unter www.ferstlhof.de. Sabine Grossers Fotografenseite ist unter www.sabinegrosser.de erreichbar.